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von Kerstin Schmidt

Kerstin Ekman: "Der Wald"

Die Wälder meiner Kindheit waren keine dunklen Märchenwälder. Es waren lichte Kiefernwälder, in denen man prima Maronen, Pfifferlinge und Steinpilze sammeln konnte. Mein Großvater war der beste Blaubeerpflücker in der ganzen Gegend, denn er wusste noch, wie man flink und dennoch vorsichtig mit einer Raffel umgehen konnte. Das einzige, wovor ich mich in diesen hellen Wäldern gruselte, waren dicke Kreuzspinnen, die gerne ihre großen Netze von einem Baum zum andern spannten. Wenn man nach Pilzen oder Beeren Ausschau hält, dann achtet man ja nicht auf Spinnennetze. Und plötzlich hat man dann so ein Monstrum im Gesicht. Schauderhaft! Sonst hatte ich keine Angst im Wald und verlaufen habe ich mich auch nie.

In den Wäldern von Kerstin Ekman kann man verloren gehen. Die Wege sind verschlungen und man kann Wesen treffen, Waldnymphen und Trolle – oder wirkliche Tiere, solche, die in unseren Wäldern schon lange nicht mehr vorkommen: Bären, Wölfe... Elche! Dieses Buch kann man in die Hand nehmen, man kann es an irgendeiner Stelle aufschlagen – und man wird eine der unzähligen Facetten kennen lernen, wie man sich dem Wald nähern kann: als Poet, als Märchenerzähler, als Botaniker, Jäger, oder Waldarbeiter, als jemand, der einfach mit seinem Hund im Unterholz herumstromert, als Öko-Aktivist oder als Wissenschaftler, der gerne alles in eine Ordnung bringen möchte, als Historiker. Kerstin Ekmans Buch ist also eine Essaysammlung, die in mehr als 30jähriger Arbeit im Wald und beim Lesen über den Wald entstanden ist. Es gibt lichte Kapitel und dunklere, vieles hat mit Schweden zu tun, aber vieles betrifft auch einfach nur den Wald an sich: Wie Menschen mit ihm und von ihm und in ihm lebten und arbeiteten. Ich werde dieses Buch noch viele Male in die Hand nehmen und an irgendeiner Stelle aufschlagen...

Kerstin Ekman

Der Wald
Eine literarische Wanderung

Piper Verlag, 527 Seiten, mit farbigen Abbildungen, EUR 24,90

Statt einer Leseprobe:

Alexandra Coelho Ahndoril hat portugiesische Wurzeln, lebt in Schweden und ist Redakteur bei der Zeitung Göteborgs Posten. Sie hat Kerstin Ekmans Buch so beschrieben:

Wenn die Bäume mindestens fünf Meter hoch sind und nicht weiter als 30 Meter voneinander entfernt, dann befindet man sich in einem Wald – vorausgesetzt das Gebiet ist so groß, dass die Bäume ein eigenes Klima schaffen, das sich von der Umgebung unterscheidet. So steht es in der schwedischen Nationalencyklopädie.

Aber was ist ein Wald mehr als alle seine Bäume? Ein Wald ist so unendlich mehr! Die Schriftstellerin Kerstin Ekman hat sich entschlossen, ihr eigenes Bild vom Wald zu formulieren. In ihrer umfangreichen und wunderschön illustrierten Essaysammlung hat sie sich entschlossen, mit dem Leser eine lange Waldwanderung zu unternehmen. Als Mitwanderer hat sie eine Reihe von Herren und Damen an ihrer Seite, die alle eine sehr starke, manchmal schicksalhafte Beziehung zum Wald hatten. Es handelt sich um Menschen, die dafür gekämpft haben, den Wald zu kartographieren, den Wald zu bewahren, den Wald zu beschreiben oder um solche, die ihre Geschichten im Wald gefunden haben, in Sagen und Mythen.

Das Buch beginnt mit der Mittelalterballade vom Herrn Olof und seinem fatalen Ritt mitten hinein in den Tanz der Elfen. Es kostet ihn sein Leben, als er sich weigert mit der Tochter des Elfenkönigs zu tanzen. Vom Tod gezeichnet reitet er heim, um sich das Totenbett bereiten zu lassen. Als seine Mutter besorgt fragt, was denn passiert sei, antwortet er kryptisch: Ich habe mich an einem Eichenast gestoßen.

Andere Herren im Wald sind der passionierte Botaniker Elias Fries, der im 19. Jahrhundert sehr genau und nahezu liebevoll die unterirdische Welt der Pilze beschrieb in seinem großen, bahnbrechenden Werk Systema mycologicum. Oder der verarmte kriegsverletzte Förster Magnus Hendrik Brummer, der 1789 ein Buch mit dem Titel Versuch zu einem Schwedischen Wald- und Jagdlexikon veröffentlichte, in dem er in alphabetischer Ordnung Begriffe der Jagd, der Forstwirtschaft und anderer Walderscheinungen aufzählt. Mit seinem schmerzenden Leistenbruch als Erinnerung an den Krieg um Pommern ritt er in den Wäldern seiner Heimat Halland herum und versuchte übermäßige Abholzungen, Brandrodungen und andere Waldmisshandlungen zu verhindern, die von den Bauern durchgeführt wurden.

Ja, das Buch bewegt sich von uralten Geschichten über fast zugewachsene Pfade bis hin zum Rand des Waldes, wo einem der Atem stockt, weil man plötzlich vor einem riesigen Kahlschlag steht. Das Buch ist sehr weit ausgelegt und mehrschichtig, wie der Wald selbst, und wenn man Kerstin Ekman Gesellschaft leisten will, dann muss man sich darauf einlassen, dass der Weg verschlungen ist, sich windet und manchmal wendet – oder auch einmal nirgendwo ankommt oder ganz voller Unterholz ist. Aber diese Wanderung lädt ein, unheimlich viel zu entdecken, man wird reich belohnt und hat wunderbare Begegnungen. Das Buch überrascht mit einem Detailreichtum, der die Schönheit und Merkwürdigkeit der Gewächse beschreibt, so dass man sich vorkommt, als würde man mitten auf einer Lichtung sitzen, in all dem wuchernden Grün, mitten im Rauschen und Knarren des Waldes.

Um den Wald zu verstehen, muss man die Klugheit haben, zu sehen, meint Kerstin Ekman. Und sie tut ihr Bestes, um dem Leser die Augen zu öffnen für alle Einzelheiten zwischen den Baumstämmen. Ich werde wohl nicht mehr auf die gleiche Weise durch einen Wald wandern, nun, nachdem ich dieses Buch gelesen habe. Die Welt des Waldes lebt in einer eigenen Ordnung. Das wusste ich vorher, aber nie zuvor habe ich es mit einer so glühenden Intensität gelesen.

Irgendwo beschreibt Kerstin Ekman ihre Kindheit in den 40er Jahren, als sich die ganze Familie in den Wald begab, um Pilze und Beeren zu pflücken. Diese Schilderung lässt mich sofort an meine Kindheit in den 70ern denken und an die Ausflüge meiner Familie in die dichten Blaubeerwälder von Småland. Meine Mutter war in einer ganz anderen Landschaft in Portugal aufgewachsen, wo hohe Pinien und blaugrüne, duftende Eukalyptusbäume luftige Waldflecken zwischen den Olivenhainen bildeten. Hier in dem dichten Wald in Småland warf sie die ganze Zeit ängstliche Blicke über die Schulter aus Angst vor Bären, Wölfen und oder was es nun war, das sie da im Dickicht herumstromern glaubte. Ich spürte ihre Unruhe und Angst vor dem dichten Wald genauso wie ich das leise Geräusch der Beeren wahrnahm, wenn sie in den Spankorb kullerten, ein Geräusch, das immer mehr gedämpft wurde, weil der Korb sich füllte. Ich selbst fand es wunderbar, in diesem eigentümlichen, indirekten Licht zwischen den Stämmen zu gehen, auf dem moosbedeckten Boden – auch wenn ich selbst die ganze Zeit irgendwie die Augen derer auf mir spürte, die uns von irgendwo da im Dunkeln des Waldes betrachteten. Kerstin Ekman schreibt: Vielleicht war es damals beim Pilze- und Beerensammeln, als sich der Wald in mich senkte und dort blieb. Ja, vielleicht war es so.

Nach der Lektüre des Buches frage ich mich, ob Kerstin Ekman nicht damit begonnen hat, ein Verzeichnis über eine Kultur zu schreiben, die verschwinden wird, wenn es den Wald nicht mehr gibt. Was wird passieren mit unseren Volksmärchen, wenn wir den Zauberwald verlieren, wo Rotkäppchen, Schneewittchen, Hänsel und Gretel, Herr Olof und all die anderen ihr Bühnenbild hatten? Es lauern ja auch heute noch Geschichten auf Bärenpfaden und auf Rotwildwechseln. Wird es denn überhaupt noch Waldgeschichten geben, wenn der Wald aufgehört hat zu existieren? Ich weiß nicht.

Kerstin Ekmans Ton wird zum Ende des Buches immer warnender vor dem kurzsichtigen Hantieren mit dem Wald der heutigen Zeit. Wir hatten niemals zuvor so produktive Wälder wie heute, sie werden bis zum Maximum ausgenutzt. Aber beim heutigen Wald handelt es sich um schnell wachsende Monokulturen, auf Kosten des uralten rauschenden Waldes, mit seinen Moosen und blühenden Mooren zwischen den Bäumen. Am Schluss der Wanderung kommt es einem vor, als wäre Kerstin Ekman selbst verwildert. Sie schickt wüste Verwünschungen über die Verantwortlichen, die den Wald zerstören, die nicht die Klugheit haben, zu sehen. In ihrer Gegend haben populistische Politiker eine Motocrossbahn in einem einzigartigen Wald angelegt, der dort seit mehreren hundert Jahren ungestört wachsen durfte.

Im letzten Kapitel des Buches dürfen wir Kerstin Ekman auf einer Wanderung folgen – in Gesellschaft eines der Herren, mit denen sie am liebsten im Wald unterwegs ist. Es ist Förster Magnus Henrik Brunner mit seinem Leistenbruch. der Gemeinsam gehen sie umher zwischen Fichten und Kiefern, über feuchten Waldboden und Hochmoore – und sie sehen, sehen, sehen. Just als der Weg zu Ende ist, kehren sie um. Um nichts in der Welt will Kerstin Ekman, dass ihr Begleiter den furchtbaren Kahlschlag zu sehen bekommt, der sie am Ende des Weges erwartet. Mit neuen Maschinen verwüsten die Menschen heute den Wald auf eine Weise, wie es sich die Menschen früher niemals vorstellen konnten. Und vielleicht ist es nicht nur der Wald, sondern die Spielwiese unserer Märchen und uralten Geschichten, die nun abgeholzt wird und verschwindet.

Erschienen in Göteborgs Posten am 20.03.2007 – übersetzt von Kerstin Schmidt

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