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von Kerstin Schmidt

Hakan Nesser: "Die Schatten und der Regen"

Nach dem Genezareth-Buch war dies der zweite Krimi von Håkan Nesser, den ich gelesen habe – und ich bin wiederum sehr berührt.

Es gibt Krimis, da steckt das Böse in einer einzelnen Person: in einem kaltblütigen Killer, in einem geld- oder machtgierigen Gangsterboss oder in einem vom Leben durch die Mangel gedrehten Psychopathen. Diese Krimis mag ich nicht. So viel konzentriertes Böses ist mir unheimlich und kommt dann manchmal in meine Träume...

Bei den beiden Krimis, die ich von Håkan Nesser jetzt kenne, ist es anders. Da steckt ein bisschen von dem Bösen, dem Schlechten, dem Widerwärtigem in allen. Die Personen, die er zeichnet, sind irgendwie sehr echt, denn sie haben alle ihre finstere Seite.

Wie schon im Genezareth-Krimi, so schlüpft man auch im vorliegenden Buch an vielen Stellen in die Rolle eines Jungen oder eines Halbwüchsigen. Und die Freundschaft zu einem Gleichaltrigen spielt wieder eine große Rolle. David, der Erzähler, bekommt im Alter von knapp zehn Jahren plötzlich einen gleichaltrigen Bruder: Viktor, das Waisenkind, das "Mörderkind", dessen Vater die eigene Ehefrau erschlagen hat und sich dann im Gefängnis erhängte.

Viktor ist ein seltsamer Kerl: schlau bis zur Genialität und voller verrückter Einfälle. In der Grundschule singt er Psalmen rückwärts – und später fällt er, beim Beweis von Fermats letztem Satz, aus dem zweiten Stock der Realschule. Fortan ist er stumm und wird immer wunderlicher. Zusammen mit zwei anderen, ebenfalls recht verschrobenen jungen Männern gründet er eine Wohngemeinschaft auf einem alten Bauernhof. Später gesellt sich Sara zu ihnen, die wundervoll naive Predigerstochter. Doch dann passiert das Schreckliche, das Unerklärliche: Sara wird ermordet – und Viktor verschwindet spurlos.

Beim Nachzeichnen von Situationen, von Menschen, beim Beschreiben der Landschaft oder des Wetters – sehr oft schwingt bei Håkan Nesser in den Sätzen oder zwischen den Zeilen eine stille Wehmut, etwas leise Schwermütiges mit. Und während sich der Junge David noch – Rotz und Wasser heulend – eine neue Zeit mit neuen Menschen wünscht, eine Welt mit einem gewissen Anstand, so sitzt später – und doch am Anfang des Buches – David, der Fünfzigjährige, in einem Zug in der Dämmerung... "Eine besondere Dämmerung. Die inneren Bruchflächen, die wir im hellen Tageslicht freilegen, kommen in der nachfolgenden Dunkelheit am besten zu Tage, so ist es immer gewesen und so wird es immer sein. Das wahre Gesicht einer Bewegung und ihre Bedeutung kommen erst im Stillstand zum Ausdruck..."

Ein sehr gutes Buch für den Winter – denn da gibt es jede Menge Dunkelheit. Und also viel Zeit, sich die inneren Bruchflächen einmal in aller Ruhe vorzuknöpfen. Wenn man das mag... Håkan Nesser gibt auf jeden Fall dafür Anregungen zuhauf!

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