Aus dem Archiv
von Georg Lacher-Remy
Birgit Vanderbeke: "Sweet Sixteen"
Das größte Übel hierzulande ist nicht die Arbeitslosigkeit, Hartz IV oder das überall fehlende Geld. Sondern gerade diese einseitige Fixierung auf das Materielle. Der Mangel an Ideen, Idealen und Visionen, an Vorstellungen, wie es gut weitergehen könnte in diesem Land.
Gegen diese, die wahre gesellschaftliche Katastrophe schreibt Birgit Vanderbeke seit 15 Jahren an, seit ihrem 1990 erschienenen Erstling DAS MUSCHELESSEN. Da sezierte sie die scheinbar unantastbare Einheit Familie, ließ die eingefahrenen Machtstrukturen zwischen dem Ernährer und seiner Gefolgschaft, der Frau und den Kindern, lustvoll anhand gerade eines lustvollen Ereignisses, eines geplanten Muschel-Abendessens, aufbrechen und schickte denjenigen, der schuld war an dem Mangel an Freude und Mitverantwortung, den Patriarchen, in seiner Abwesenheit in das Land, wo bekanntlich der Pfeffer wächst.
Denn sie läßt keinen Zweifel daran, wer schuld ist an dem allgemeinen Vakuum im Kopf: der Hang zur Repression - im politischen, sozialen, familiären und schulischen Bereich. Der allgemein grassierende Zwang zur Anpassung, zum Eintritt in das gesellschaftlich vorgeschriebene Hamsterrad, in dem man all seine Energie und Fantasie verliert und sich schließlich als konsumabhängiges Opfer wiederfindet, voller Neid auf das, was die anderen haben und man sich selbst nicht leisten kann, auch wenn man gar nicht sicher ist, ob man das wirklich will, weil man eigentlich gar nicht mehr weiß, was man wirklich will.
Programmatisch für ihre Zielrichtung ist der Titel ihrer 2003 erschienenen Erzählung GELD ODER LEBEN - im Sinn von Fromms HABEN ODER SEIN zu verstehen. Denn beides zusammen kann man nicht bekommen. Wenn man den von allen vorgezeichneten Weg geht, dann kommt das eigene Selbst zu kurz. Wenn man das aber haben will, wozu es einen wirklich hinzieht, z.B. in diesem Buch willkürlich subjektiv zu Wurstsalat oder Kletterpflanzen, dann gerät man zwangsläufig in Konflikt mit der Gesellschaft. Aber wenn man sich das traut, gegen den Willen von Eltern, Lehrern und Freunden, passiert etwas Erstaunliches und es geht einem trotzdem gut ...
Mit ihrem neuen Buch SWEET SIXTEEN bleibt Birgit Vanderbeke ihrer Linie treu, aber sie verläßt den Weg der - in welchem Maß auch immer - autobiografisch gefärbten Erzählung. SWEET SIXTEEN ist eine gesellschaftliche Vision, eine Art deutsche Science-fiction. Ausgehend von der Überlegung, wer wohl unser gesamtgesellschaftliches Dilemma lösen könnte. Sicher nicht die politischen Parteien, sicher nicht einseitig die Ossis oder die Wessis, nein, wer bleibt da als Hoffnungsträger wohl übrig? Die Jugend, ja genau, genau DIE Jugend, der wir so wenig zutrauen!
An ihrem 16. Geburtstag verschwinden plötzlich Jugendliche, Jungs und Mädels, aus Hessen, Bayern, Brandenburg, Niedersachsen usw. Völlig unmotiviert und spurlos, ihre Eltern stehen vor einem Rätsel. Die Polizei genauso, denn ihre inzwischen gängige Methode, verschwundene Jugendliche wieder aufzufinden, funkioniert diesmal nicht. Denn deren Handys, die universal verfolgbare Spur, werden anonym an unbeteiligte Personen geschickt. Die Jungs und Mädels verschwinden einfach von der Bildfläche, immer mehr, und niemand weiß, warum.
Bis sich nach einiger Zeit eine Spur andeutet und im Internet ein Manifest auftaucht. Ein Manifest von Jugendlichen, die die Nase voll und sich offenbar online verabredet haben: „Wir spielen nicht mehr (mit)! Es wird ernst!“, heißt es da in der Überschrift. Sie haben die Nase voll von ihren Schulen („die zu blöde seien, einem das Rechnen und Schreiben beizubringen, geschweige denn, worauf es wirklich ankommen würde“) und treten einfach aus, um sich das Wesentliche künftig selber beizubringen. Sie treten aus, nicht nur aus der Schule, sondern aus der ganzen Gesellschaft, die man leicht in zwei Hälften einteilen könne: die Depressos, die unter dem System leiden und nur noch jammern, und die Regressos, die sich in „dem geschlossenen System von Jobben, Shoppen und Glotzen“ befänden.
Eine hübsche neue 68er-Revolte hat sich Birgit Vanderbeke da zusammenfantasiert, eine ganz andere als damals, aber eine konsistente und gut nachvollziehbare. Die jungen Rebellen gehen nicht mehr auf die Straße, sondern machen sich unsichtbar; sind nicht auf Randale aus, sondern wirken im Untergrund; und sie bedienen sich der neuesten Technik. Details daraus hat Birgit Vanderbeke kenntnisreich in ihre Erzählung eingebaut, und wer sich halbwegs auskennt mit Computer und Internet, Handys und Chipkarten, wird beim Lesen seine Freude haben.
Wie die Gesellschaft auf diese sanfte Revolte reagiert, auch das hat Birgit Vanderbeke logisch weitergedacht, aber wie das Kräftemessen zwischen dem Establishment und der neuen Kraft endet, das soll hier nicht verraten - sondern vielmehr darauf hingewiesen werden, WIE die Autorin ihre Geschichte erzählt. Ein Buch von ihr zu lesen, das ist mehr, als nur einer im gewohnten Stil erzählten Handlung zu folgen. Sie legt keinen Wert auf Spannungserzeugung, verwendet weniger direkte, sondern oft indirekte Rede, und da, wo sie direkte Rede verwendet, fehlen die Anführungszeichen. Dadurch verwischt sie die Grenzen zwischen Erzählung und Erzähltem, sie verwendet oft bekannte Zitate oder Redewendungen, statt etwas direkt zu erzählen, und manchmal wendet sie diese bekannten Redewendungen so oft hin und her, dass sie mit jeder Wendung an Sinn verlieren oder an neuem Sinn gewinnen, und man sich beim Lesen bewußt wird, was man da manchmal für einen Sinn oder Unsinn hört oder sogar selber sagt. Das Resultat dieser Methode sind ihre berühmten Bandwurmsätze. Für alle, die diesen Stil mögen, wird dadurch fast jeder Satz zum anregenden Genuss. Hier ein Beispiel, und wem diese Passage gefällt, der oder die wird wohl auch das ganze Buch gut finden. Es stammt aus der über mehrere Seiten gehenden Beschreibung des oben erwähnten Manifests:
„Hier wurde der Text ausufernd und gab sich detaillierter Medienkritik hin, die schließlich in einen Mißbrauchsvorwurf mündete, denn schließlich wäre es nichts als blanker Mißbrauch, wenn man an Wochentagen nicht raus und was machen dürfe und sich statt dessen ansehen müsse, wie die eigenen Erziehungsberechtigten zu ferngesteuerten idioten mutierten, lustige Ratespielchen spielten und sich von einem Typen fragen ließen, wann die Berliner Mauer gefallen wäre, und statt zu sagen, wann, sagten sie dann, das ist was für dich, das ist eine richtige Pisa-Frage, wann ist die Berliner Mauer gefallen. Wann ist Friedrich Schiller gestorben, vor fünfzig, vor hundert, vor hundertfünfzig oder vor zweihundert Jahren, a, b, c oder d, und wo genau liegen die Malediven, wobei das Ratespielchen noch die harmlose Variante des abendlichen Zeitvertreibs von Regressos sei, etliche würde es anmachen zuzugucken, wie irgendwelche Versuchskaninchen (ebenfalls Regressos) Regenwürmer fressen oder in ihren Lachsackpacks zwangswitzig sind, und jedenfalls, so das Manifest, habe man die Nase voll davon, sich abends entweder dem mürbenden Depresso- oder dem ultimativ tödlichen Regressoprogramm unterziehen zu lassen.“
Birgit VanderbekeSweet SixteenFischer Taschenbuchverlag, 144 Seiten, Taschenbuch, EUR 7,95 |