Aus dem Archiv
von Kerstin Schmidt
Juri Rytchëu: "Wenn die Wale fortziehen"
Sie leben am Kap der Kiesel. Nau, das stille schwarzhaarige Mädchen und Rëu, der sich aus Liebe zur ihr aus einem Wal in einen Menschen verwandelt hat. Durch seine Herkunft bleiben ihre Kinder und deren Nachkommen stets sehr eng mit dem Meer und seinen Bewohnern verbunden. Später wird man dieses Küstenvolk auf der Halbinsel Tschukotka das Volk der Tschuktschen nennen. Ihre Schöpfungslegende nennt Menschen und Wale Brüder. Und obwohl alles Leben irgendwann einmal aus dem Meer kam, so fühlen sich die Tschuktschen doch noch viel unmittelbarer mit ihm verbunden.
In dieser unwirtlichen baumlosen Landschaft, wo fast neun Monate im Jahr Schnee liegt und eisige Stürme von der Beringsee herüberwehen, siedeln Robbenjäger und Rentier-Nomaden schon seit über 3000 Jahren. Der Autor selbst wurde noch in einer aus Rentierfellen gebauten Hütte geboren. Diese als "Jarangas" bezeichneten Wohnstätten der arktischen Ureinwohner sind älter als die Pyramiden in Ägypten.
Menschen können in so einer Gegend nur überleben, wenn sie einander helfen und mit den natürlichen Ressourcen sorgsam umgehen. Das ist die Grundaussage dieses Buches. Verpackt ist sie als Parabel in eine wunderschöne, märchenhaft anmutende Erzählung, in der Nau als Urmutter des Küstenvolkes unzählige Generationen überdauert. Sie gibt ihr Wissen um ihre Wurzeln weiter und sie führt vor, wie man im Einklang mit den anderen und mit der Natur selbst in der langen kalten Polarnacht überleben kann.
Doch irgendwann hören die Menschen nicht mehr auf die uralte Nau. Sie vergessen ihre Wurzeln und sie schlachten viel mehr Meerestiere, als sie eigentlich zum Leben brauchen. Das macht sie fett und krank, doch sie wollen immer mehr. Und als es an den Ufern keine Robben mehr gibt, da beginnen sie ihre Brüder, die Wale zu jagen...
Es ist sehr viel arktisches Licht in dieser Erzählung - immer ein bisschen unwirklich und doch so voller Zauber. Und es lässt uns zurück mit der Frage: Werden die indigenen Völker Sibiriens überleben, wenn sie sich wieder ihrer Wurzeln erinnern und wenn sie den Raubbau an ihrem Lebensraum stoppen?
Klaus Bednarz hat sie besucht auf seiner Reise "Östlich der Sonne - vom Baikalsee nach Alaska." Landstriche, die während der Sowjetregierung stark subventioniert waren, sind heute zum Teil echte Notstandsgebiete. Viele Menschen wandern ab. Die, die bleiben, so wie die heute noch etwa 12.000 auf Tschukotka lebenden Tschuktschen, sehen sich mit Alkoholismus, Hunger, Krankheiten und einer viel zu geringen Lebenserwartung konfrontiert. Doch sie besinnen sich auf ihre Traditionen und ihre Vergangenheit als Robbenjäger und Rentier-Nomaden. Denn nur so können sie mit einem Mindestmaß an Würde und Selbstbestimmung überleben. Und vielleicht wird ja dann auch Nau, die Urmutter, eines Tages zu ihnen zurückkehren...
Juri RytchëuWenn die Wale fortziehenUnionsverlag Zürich, , Taschenbuch, EUR 7,90 |
Leseprobe
Während Ajnau den Seehund zerlegte, kamen die Nachbarinnen in die Jaranga, eine jede ging wieder fort mit einem Stück Fleisch, und das erfüllte die Bewohner dieser Jaranga mit Zufriedenheit, denn man empfand Freude: Habe und Essen zu teilen ist die erste und angenehmste Pflicht der Nachkommen der Wale.
Im tiefsten Winter fällt es schwer, sich vorzustellen, daß der Sommer kommen und es keinen Schnee geben wird auf dem Kap der Kiesel, daß die tief verschneiten Hügel hinter der Lagune ergrünen werden, daß in breiten Bächen Wasser frei von den Bergen herabfließen und die Stille der Polarnacht von klingendem Vogelgezwitscher erfüllt sein wird. Das Meer würde befreit vom Eis, und die Wale kämen zur Küste geschwommen . . .
Als der süße Schmerz erster Sättigung vorüber war und eine leichte Schläfrigkeit die Körper der auf weichen Renfellen ausgestreckten Bewohner der Jaranga einhüllte wie zarter Dunst, begann das Familienoberhaupt seine Erzählung . . .
So war es Sitte in der Jaranga. Kinder müssen ihre Vergangenheit kennen, um sich nicht allein zu fühlen in dieser ungeheuer großen Welt.
Kljaus Stimme tönte dumpf im warmen Polog, der ausgefüllt wurde vom Geruch frischen Blutes und warmen Fleisches, unter den sich der des Seehundtrans mischte, der im steinernen Tranlämpchen brannte . . .
"Früher bedeckten Kälte und Finsternis den Raum, in dem weder Erde noch Himmel, noch Wasser zu unterscheiden waren . . . Alles war gleichermaßen dunkel wie bei einem Schneesturm", erzählte Kljau. Um ihn lagen die Kinder, die mit angehaltenem Atem aufmerksam seiner Erzählung über die Vergangenheit des Volkes auf dem Kap der Kiesel lauschten.
"Die Strahlen der Sonne durchstießen nicht die düsteren Wolken, aus denen ununterbrochen kalte Nässe rann . . . Aber da erschien eine Frau. Mit nackten, warmen Füßen ging sie über die kalte Erde, und dort, wo sie auftrat, wuchs plötzlich grünes Gras hervor. Sich umschauend, lächelte sie; nun durchbrach die Sonne die schwarzen nässetriefenden Wolken und antwortete ihr mit blendendem Schein, der die Finsternis vertrieb und den ganzen einförmigen Raum mit Wärme überflutete. Und die Frau sah: es gibt die Erde und das Meer, den Himmel und die Felsen und das Kap der Kiesel, das die Lagune vom Meer trennt; in den Erdlöchern wohnen die Hörnchen, die Polarfüchse stromern durch die grünbewachsenen Hügel, die Vögel fliegen über dem Meer . . . Und das Meer selbst – selbst dies ist erfüllt von Leben, erfüllt von schwimmenden und tauchendem Getier. Die Frau lief am Ufer umher und ernährte sich von Beeren und Algen. Und sie wußte nicht, daß sie ein Mensch war, denn es gab niemanden an ihrer Seite, mit dem sie hätte reden können.
Solange, bis die Große Liebe zu ihr kam.
Die Große Liebe verwandelte einen Wal in einen Menschen, und er nahm sich diese Frau zum Weibe.
Und die Frau gebar kleine Walkälber. Sie wuchsen zunächst in der Lagune heran, doch als sie erwachsen waren, wurde ihre Lagunen-Wiege zu eng für sie, und sie zogen durch die Pilchyn-Enge hinaus aufs offene Meer zu ihren Verwandten.
Dann gebar die Frau Kinder mit menschlichem Antlitz. Diese Kinder sind unsere Urväter, von denen wir unsere Abkunft herleiten."
Kljau verstummte kurz und sprach dann feierlich: "Und diese selbe erste Frau ist – Nau! Sie lebt unter uns und wir preisen sie!"
Kljaus letzte Worte vernahmen die Kinder bereits im Halbschlaf. In ihnen erstand die ferne unwahrscheinliche Zeit, als ein Wal sich in einen Menschen verwandeln konnte und dem Menschen Beeren und Seetang zu seiner Ernährung genügten.
Diese Legende hörten sie nicht zum erstenmal, wie auch Kljaus Erzählung von seiner eigenen wundersamen Rettung durch die Wale.
Sie hatten den Tanz des Wales gesehen und lernten ihn von Kindesbeinen an, um ihn in feierlichen Minuten, wenn dankbare Gefühle aus ihrem Innern sich losreißen wollten, aufführen zu können in der Großen Jaranga, wo sich die kühnen Jäger der Meerestiere versammelten.
Mehr? Russland. Die dritte Generation des Menschen - Ein Text von Juri Rytchëu