Aus dem Archiv
von Kerstin Schmidt
Alexander Ikonnikow: "Taiga Blues"
"Der nächste russische Präsident wird viele Haare auf dem Kopf haben, und wir werden gut und reichlich essen..." Mit diesen Worten schlägt der Koch in einer russischen Strafkolonie eine Meuterei nieder. Nein, es geht den meisten Leuten mal wieder nicht besonders gut im Russland der Jahrtausendwende. Vielen geht es sogar richtig dreckig. Der Sprung in die Marktwirtschaft ist vor allem den Leuten in der Provinz nicht so einfach geglückt. Es gibt keine Arbeit, aber viel Frust und Trostlosigkeit – und jede Menge Wodka.
Alexander Ikonnikow skizziert in seinen Kurzgeschichten das Leben der Leute, die nicht zu den "neuen Russen" gehören: Ein Arzt kündigt seinen Job auf der Rettungsstation, weil er als Nachtwächter bei einer Elektrofirma viel mehr verdient. Die Melkerin Krotowna hackt ihrem Mann im Suff ein Bein ab. Und der ganze Stolz des Strumpfhändlers Iwan Petrowitsch Puschkin ist sein Familienname.
Ikonnikow mag sie allesamt, diese Leute, seine Leute. Das merkt man. Und er weiß, wovon er spricht. Nach dem Studium der Germanistik ging er als Deutschlehrer in die Provinz. Nun lichtet er das Leben seiner Landsleute ab - und die Geschichten sind wie Schnappschüsse mit zuviel Kontrast: mal bitterböse, mal liebevoll-skurril. Das Buch wurde in Russland nicht verlegt. Klingt es insgesamt vielleicht doch zu trostlos? Ja, an manchen Stellen ist Hoffnungslosigkeit zu spüren, aber dann kommt doch wieder einer und sagt: "Der nächste russische Präsident wird viele Haare auf dem Kopf haben..."
Alexander IkonnikowTaiga BluesRowohlt Verlag, , Taschenbuch, EUR 7,90 |
Leseprobe
Das Bein
An einem eiskalten Februarabend hackte die Melkerin Krotowna beim Streit mit ihrem Mann diesem im Suff ein Bein ab. Sie tat dies mit der Axt zum Brennholzmachen. Der Schlag war so heftig, daß der Knochen durchgehauen war und der Notarzt nur noch die restliche Haut durchtrennen mußte. Der Mann wurde ins Krankenhaus gebracht, die Frau auf das Milizrevier, alle wollten schon losfahren, da fragt plötzlich einer:
"Und was machen wir mit dem Bein?"
Alle betrachteten das blutige Bein und dann den Hauptmann der Miliz.
"Mitnehmen", sagte er, "aber zuerst in einen Sack stecken."
Unterwegs im Auto wurde nach kurzer Beratung beschlossen, das Bein zum Krankenhaus zu bringen. Doch im Krankenhaus sagte man, daß man das Bein nicht brauche und es wohl in die Leichenhalle gehöre.
Der Diensthabende in der Leichenhalle warf einen Blick in den Sack und nickte. "Gut! Und wo ist die Leiche?"
"Tja", sagte der Hauptmann, "die Leiche ist noch lebendig."
"Dann entschuldigen Sie, ohne Leiche können wir es nicht nehmen." Beleidigt schlug der Diensthabende die Tür zu.
Enttäuscht kam der Hauptmann mit dem Sack ins Auto zurück und sah seine Mitarbeiter fragend an.
"Ich weiß nicht recht, aber meiner Meinung nach sollten wir es in den Wald werfen. Die Wölfe werden es fressen, und dann hat sich die Sache!" schlug der Fahrer vor.
Gesagt - getan. Die Milizbeamten fanden eine alte Schneise und fuhren tief in das Dickicht hinein.
"Weiter, noch weiter", kommandierte der Hauptmann.
Als sie wegen der Schneemassen nicht mehr vorankamen, stiegen sie aus und gingen noch ein gutes Stück zu Fuß. Das Bein wurde in eine Schneewehe unter eine Tanne geworfen und mit Zweigen zugedeckt.
"Und denkt dran: Zu keiner Menschenseele ein Wort", warnte der Hauptmann.
Zwei Monate später platzte im Nachbarbezirk die Bombe. Die Lokalpresse warf der dortigen Miliz vor, untätig zu sein, während in den Wäldern der Umgebung menschliche Leichenteile herumlägen. Gerüchten zufolge, die vor allem Babuschka Katja verbreitete, die im Wald Reisig gesammelt und den grausigen Fund entdeckt hatte, trieb im Nachbarbezirk nicht nur ein einzelner "Jack the Ripper" sein Unwesen, sondern eine ganze Bande. Eine Spezialeinsatzgruppe traf in zwei Flugzeugen aus Moskau ein, und die Bevölkerung ersetzte innerhalb von zwei Tagen die hölzernen Türen gegen eiserne und kaufte sämtliche Waffen im Jagdladen auf.
Der Hauptmann und seine Männer wußten zwar, daß sie in jener Nacht die Grenzen ihres Verwaltungsbezirks übertreten hatten, beschlossen aber, kein Sterbenswörtchen zu sagen. Auf Anweisung von oben durchkämmten sie mit anderen Hundertschaften der Miliz die Wälder und befragten Zeugen.
Die Leichenfledderer wurden nicht gefunden, dafür fand man sechs Läufe nicht angemeldeter Waffen, zwei entwendete Autos, einen deutschen Fallschirm aus dem Zweiten Weltkrieg und sechzehn Geräte zum Schnapsbrennen. Die Bande aber hatte nach glaubwürdigen Gerüchten Rußland verlassen und trieb jetzt in Weißrußland ihr Unwesen.
Zum Glück wurde auf dem Revier des Hauptmannes niemand entlassen oder degradiert, wie es im Nachbarbezirk massenhaft der Fall war. Der Hauptmann und seine Männer schwiegen tapfer. Sie schweigen übrigens bis heute.