Startseite  Aktuelle
     Empfehlung
 Archivliste

Aus dem Archiv

von Kerstin Schmidt

Friedrich Wolf: "Die Natur als Arzt und Helfer"

Das umfangreiche literarische Werk von Friedrich Wolf drohte nach der Wende in Vergessenheit zu geraten. Denn mit Ausnahme der „Märchen für große und kleine Kinder“ wurde keines seiner Bücher neu aufgelegt. Wer ihn lesen wollte, musste in Bibliotheken oder Antiquariaten stöbern. Doch zum Glück gab es im Herbst letzten Jahres ein wichtiges Jubiläum: Der Todestag von Friedrich Wolf jährte sich zum fünfzigsten Mal. Aus diesem Anlass brachte der Verlag „Das neue Berlin“ ein überarbeitetes Friedrich-Wolf-Lesebuch mit dem Titel „Du bleibe!“ heraus.

Markus Wolf las Ende September im Haus des Vaters in Lehnitz aus diesem Buch vor. Es war eine Lesung im kleinsten Kreis und sie ist mir in sehr eindrücklicher Erinnerung geblieben. Ganz sicher lag das an der beinahe familiären Atmosphäre und den vielen Episoden, die Markus Wolf aus seinem Gedächtnis kramte. „Der Vater war strenger Vegetarier. Und auch wir Kinder aßen zu Hause kein Fleisch. Wenn wir allerdings mit der Mutter verreisten, dann kaufte sie uns schon mal ein Schinkenbrot – und das war dann immer etwas ganz Besonderes.“

Gegen Ende der Veranstaltung hob Markus Wolf einen dicken Wälzer in die Höhe und teilte uns erfreut mit, dass der Mitteldeutsche Verlag „Die Natur als Arzt und Helfer“ gerade neu aufgelegt hatte. Friedrich Wolf verfasste diese umfangreiche Fibel der populärwissenschaftlichen Naturheilkunde in den Zwanziger Jahren, um vor allem den einfachen Leuten eine natürliche und gesunde Lebensweise ans Herz zu legen.

Der junge Wolf trennte niemals seine ärztlichen Pflichten von seinem Wirken für den gesellschaftlichen Fortschritt. Als Batallionsarzt erlebte er den Ersten Weltkrieg an der Westfront und war fortan entschiedener Pazifist. Nach dem Krieg wurde er Stadtarzt in Remscheid und verstand sich vor allem als „Arzt der kleinen Leute“. So setzte er sich für eine Mütter- und Säuglingsberatung ein und baute eine Schul- und Gewerbehygiene auf. 1929 wurde sein Theaterstück „Cyankali“ aufgeführt, mit dem er sich vehement gegen den Paragrafen 218 wandte.

Am vorliegenden Buch arbeitete Friedrich Wolf mehrere Jahre. Vor einem soliden wissenschaftlichen Hintergrund breitet er das Spektrum der praktischen Naturheilkunde aus – immer illustriert mit Erfahrungen, Anregungen (und Fotos!) aus dem eigenen Alltag als Naturarzt und Familienvater. So ist dieses Buch keineswegs ein unpersönlicher Ratgeber mit einem unangenehm erhobenen Zeigefinger, sondern ein ehrliches und glaubwürdiges Lehr- und Nachschlagewerk für alle, die vielleicht wieder ein bisschen einfacher und natürlicher leben wollen.

Friedrich Wolf

Die Natur als Arzt und Helfer

Mitteldeutscher Verlag, 676 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, leider nicht mehr lieferbar, EUR 30,00

Vorwort des Verfassers aus dem Jahre 1928


Weniger ist mehr!
Schluß mit der Fassade!


Trotz aller Verfeinerung der Technik, der Mensch der kommenden Zeit drängt nach Vereinfachung.
Sichtbarster Ausdruck ist das neue Bauen. Das neue Haus hat nicht mehr ein Dutzend Türmchen, Erkerchen und Nischen mit Florabüsten, es ist eine klare, sinngegliederte Wohneinheit, auf Licht, Luft und leichte Reinigung gestellt. Auch die Innenräume sind keine Plüschmuseen mehr mit Dornausziehern, Tonmöpsen und Schlummerrollen. Weniger ist mehr! Zum erstenmal in unserer Zeit ward hier klar und mutig Schluß gemacht mit der „Fassade“, aber auch mit verstaubten Gewohnheiten, mit einer Scheingefühlswelt, die der Wirklichkeit unserer neuen Arbeits- und Geisteswelt in keiner Weise mehr entsprach. Vereinfachung, Klarheit und Wahrhaftigkeit!
Was das neue Bauen nach dem Chaos des Scheinbarocks und der Gründerzeit jetzt zu schaffen beginnt, genau das erstrebt in der Heilkunst die Naturheilkunde. Im Grunde der gleiche Drang nach Vereinfachung aus dem Wust barocken Spezialistentums, aus einer pompösen Fassadenwirtschaft, der gleiche Drang, aus den Dutzenden Methoden künstlicher Bestrahlungen, Serumtherapien und mehr oder weniger giftiger Arzneimoden auf die einfachen, großen Heilkräfte der Natur, auf Licht, Luft, Erde und Wasser, Gymnastik und Diät zurückzugreifen. Auch hier – gleich dem zierratlosen Bau – ein Verzicht auf imponierende Mammutröhren und Apparate, auch hier scheint alles oft „zu einfach“, etwa: gegen schwere Verstopfung morgens ein Glas warmes Wasser zu trinken, den Leib zu kneten, einen Dauerlauf zu machen und Rohkost und Vollkornbrot zu essen.
Es beginnt zu tagen. Ein Hochschullehrer der Medizin hat jüngst bekannt: „Wir haben uns dumm studiert.“ In neuem Licht steht heute das Wort des großen Forschers und Philosophen Leibnitz: „Die Wissenschaften schreiten fort, indem sie sich vereinfachen.“

Gliederung des Buches

Doch wie bei der neuen Baukunst mit ihren quadratischen Klötzen und Einheiten, so erfordert die Anwendung gerade der einfachen Naturheilkräfte genaueste Kenntnis ihrer Gesetze.
So bringt der erste Teil meines Buches eine gründliche Darstellung der Einheiten und Gesetzes unseres Körpers: die Darstellung vom Bau, von den Geweben und der Wirkungsspanne (Anatomie, Histologie, Physiologie), doch unter ständiger Berührung der Naturheilkräfte. Daher sind die Brustmuskeln und der Zwerchfellmuskel als Kräfte der Atemgymnastik behandelt, die Fußmuskeln in ihren Übungen gegen Platt- und Senkfuß, die Haut und ihre Drüsen als Reaktionsorgan und Blitzableiter beim „Heilfieber“, bei Schwitz- und Lichtluftkuren, beim Nacktturnen und Freiluftunterricht, die Blutgefäße bei der gleichzeitigen Oberflächen- und Tiefenwirkung des Kalt- und Warmbades.
Der zweite Teil gilt der großen, praktischen Frage: Wie können wir inmitten der der heutigen Nahrungsverfälschung, inmitten der Großstädte, des Wirtschaftskampfes, der Maschinenzeitalter noch „gesund“ leben? Können wir in unserer heutigen Zeit noch gesund leben? Diese Frage beantworten, sie bejahend beantworten, heißt ein ganzes Heer von Ernährungs-, Wohnungs-, Kleidungs- und Berufskrankheiten beheben und – wichtiger noch – ihnen vorbeugen. Ohne Übertreibung: Fünfzig Prozent unserer „Kulturkrankheiten“ kommen „aus dem Bauch“, wurzeln in falscher Ernährung! Deshalb ist der Frage: „Was sollen wir essen?“ ein besonders großer Abschnitt eingeräumt. Nahrung, Kleidung, Wohnung, Geburtenregelung, Ehe, Kinderaufzucht, Schule, Arbeit und Feierzeit, diese Grundpfeiler einer Erziehung zur Gesundheit umschreiten wir in ganzer Breite und verzichten dafür in Nebengebieten auf eine Vollständigkeit, die es nicht gibt.
Der dritte Teil gilt der eigentlichen Heilkunst. Hierzu müssen wir kennen: die natürlichen Heilkräfte, die Formen der Krankheit, die Behandlungsweise.
1. Die natürlichen Heilkräfte: Licht, Luft, Wasser, Erde, Massage, Gymnastik, Diät, Fasten, Obstkuren, Heilkräuter.
2. Die Krankheitsformen und ihre Behandlung.
Nach der Grundauffassung der Naturheilkunde von der konstitutionellen Bedingtheit der Krankheiten haben wir nur große Krankheitsgruppen einheitlich zu betrachten. Jede Krankheit ist die Antwort unserer Lebenskraft auf die tausend Schädigungen, die täglich auf uns eindringen. Die eine, die schwächere „Natur“ (Lebenskraft) reagiert auf eine Durchnässung mit einer Lungenentzündung, die andere mit einem Schnupfen, die dritte überhaupt nicht. Napoleon ging furchtlos und unangefochten durch die Pestbaracken Ägyptens. Der berühmte Hygieniker Professor v. Pettenkofer aß vor Zeugen Reinkulturen von Cholerabazillen, ohne zu erkranken! Wieviel Tuberkelbazillen atmen wir alle täglich in den Städten ein! Es gibt keine Tuberkulose an sich, keine Lungenentzündung, keine Cholera; es gibt nur einen für Cholera, für Tuberkulose oder Lungenentzündung bereiten (geschwächten) Körper. „Die Krankheiten überfallen uns nicht wie aus heiterem Himmel, sie sind die Folgen fortgesetzter Sünden wider die Natur; erst wenn diese sich häufen, brechen die Krankheiten plötzlich hervor!“ So Hippokrates, der größte Arzt des Altertums.

Naturheilkur heißt
neue Lebensweise!


Nicht mit ein paar Einspritzungen oder ein paar Tabletten kann daher eine Krankheit bekämpft werden; die „fortgesetzten Sünden wider die Natur“ sind zu beseitigen, der ganze Mensch ist umzubauen! Naturheilkur heißt neue Lebensweise!
So ist dieses Buch nicht nur ein Nachschlagebuch für den Krankheitsfall, das man – wenn es brennt – bestürzt durchblättert; das Buch soll in Ruhe gelesen werden, in den gesunden Tagen, jeden Abend ein Abschnitt, bevor eine Krankheit ausbricht, damit keine Krankheit ausbricht! Lest daher den zweiten Teil des Buches: die Erziehung zur Gesundheit, lest das ganze Buch, lest es rechtzeitig!
Seine Entstehung verdankt das Werk der Anregung des Herrn Dr. Kilpper und der Mitwirkung des Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart.
Es schien geboten, ein Werk über die neue Naturheilkunde zu schaffen, darin die Erfahrungen der alten Meister mit den jüngsten Ernährungs- und Säftelehren verbunden. Es galt den Versuch, diesen umfassenden Stoff wieder einmal von einem einzigen Blickpunkt, von einem einheitlichen Weltbild aus zusammenzusehen.

Stuttgart, Frühjahr 1928

Dr. med. Friedrich Wolf

Mehr? —  auf der Webseite der Friedrich-Wolf-Gedenkstätte in Lehnitz

 Startseite  Aktuelle
     Empfehlung
 Archivliste  nach oben