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von Joachim Kohs

Rudolf Lorenzen: "Alles andere als ein Held"

In diesem Buch wird ein vielleicht typischer deutscher Lebenslauf der Zwanziger-Jahre-Generation geschildert – mit bestimmt vielen autobiographischen Einzelheiten aus dem Leben des Autors (Lorenzen wurde 1922 geboren).

Der Hauptheld heißt Robert Mohwinkel und kommt aus armselig-kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sein Werdegang ist unspektakulär, aber exemplarisch: Schulbesuch, Hitlerjugend, Lehre im Schiffskontor, Tanzstunde, erste Begegnung mit dem anderen Geschlecht, Wehrmacht, Krieg, Gefangenschaft - und nach dem Krieg: der ganz große Neuanfang. Der Weg von einem fügsamen Jungen und jungen Mann, der sich lieber einordnet, unterordnet... Bis er merkt, dass „Kameradschaft“ und „Ehrlichkeit“ in bestimmten Zeiten ziemlich schnell zum Verrecken führen können.

Der Autor ist mit seiner Geschichte immer am Leben dran und skizziert so den Lebensweg einer ganzen Generation. Mit Witz und Liebe fürs Detail lässt er die Handlung vor dem Leser ablaufen, so dass man sich der Lebensgeschichte des Robert Mohwinkel nicht entziehen kann. Der Wandel des Haupthelden vom ewigen Verlierer zum Gewinner liest sich dann schon fast wie eine Satire.

Für mich gab es da noch zwei Besonderheiten: Vom Autoren wird nichts Stolzes und Großes an der deutschen Wehrmacht gelassen und sehr eindringlich wird auch die Willkür in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern geschildert. Zwei Gründe, die vielleicht dazu führten, dass dieses Buch – 1959 erschienen – im Westen Deutschlands bald in der Versenkung verschwand und im Osten erst gar nicht verlegt wurde. Für das Wiederentdecken und Wiederverlegen im Schöffling Verlag ist also Dank zu sagen.

Wenn Sie Kellermann, Frank und Fallada mögen – dann wird Ihnen dieses Buch ganz gewiss auch sehr gut gefallen!

Rudolf Lorenzen

Alles andere als ein Held

Piper Verlag, 621 Seiten, Zur Zeit leider vergriffen!, Taschenbuch, EUR 12,90

Leseprobe


Wieder wurden an diesem Abend viele Biere und viele Schnäpse getrunken. Robert, der dem Paar gegenübersaß, konnte beobachten, daß Nanny heute entfesselter war als sonst. Sie lachte und zeigte ausgiebig ihre spitzen Zähne, sie kniff Albert, und sie legte ihren Oberkörper über seinen Schoß in dem Augenblick, als er seine linke Hand auf ihre Schulter legte. Durch diese Bewegung glitt Alberts Hand hinunter auf ihre Hüfte, und durch ein leichtes Hochziehen des Rockes deutete Nanny an, daß er, wenn er Lust habe, ihre Hüfte anzufassen, dies auch unter dem Kleid tun könnte. Robert sah von seinem Platz gegenüber die Stelle, wo ihr Strumpf aufhörte und ein nackter, weißer, sehr dünner Schenkel begann. Sein Freund, nun mutiger geworden, küßte sie auf das Haar und legte dabei in sein Gesicht einen Ausdruck von Abwesenheit, um sich nicht dessen schämen zu müssen, was mittlerweile seine linke Hand tat. Diese war inzwischen am oberen Ende des dünnen Schenkels angekommen, wo die weißen Spitzen ihres Höschens ihn abschlossen, wobei man noch einige Zentimeter des nackten Gesäßansatzes sah. Als Nanny Roberts Blicke bemerkte, zog sie schnell den Rock herunter und sagte zu ihm: „Ihr seid ja alle gleich!“ Dann forderte sie ein weiteres Bier. Das alles, dachte Robert, habe ich nun auch bald selbst und für mich ganz allein. Dann verließ er vorzeitig das Lokal, weil er glaubte, daß sein Freund nun gern mit Nanny allein sein wollte.
Diese Erlebnis hatte bei Robert die Vorfreude auf die Verabredung mit Fräulein Tredup noch erhöht. Er zitterte, allerdings weniger aus Freude als aus Angst, daß irgend etwas an diesem Sonntag nicht gelingen könnte. Immer wieder malte er sich ihr Bild aus: so klein wie Nanny, nur etwas kräftiger und das Haar von unbedeutendem Blond. Die Kinnpartie war im Verhältnis zum übrigen Gesicht etwas zu lang, doch das Dümmliche, das sich hierdurch ergab, wurde durch eine starke und freche Oberlippe ausgeglichen. Fräulein Tredup trug kleine silberne Ohrringe und um den Hals eine kleine silberne Kette. Robert wunderte sich über diesen Schmuck, denn Fräulein Tredup war Ringführerin im BDM, und solcher Tändelschmuck paßte nicht zu ihr; er war zu niedlich für ein Mädchen in einer so hohen Dienststellung beim BDM.
Am Sonntag war Robert eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit da. Weil er glaubte, daß auch Fräulein Tredup in freudiger Erwartung so überpünktlich sein müsse, stürzte er schon von halb vier Uhr an auf jede ankommende Bahn der Linie 4 zu, voller Aufregung, mit flatternden Bewegungen. Als sie Punkt vier Uhr, zur verabredeten Zeit, nicht da war, wußte er, daß sie nicht mehr kommen würde. Trotzdem wartete er noch zwei Stunden, denn es wollte ihm durchaus nicht in den Kopf, daß ein Mensch einen anderen Menschen so verletzen konnte. Mit dem Schluß, daß sie vielleicht erkrankt sei oder plötzlich Führerdienst gehabt hätte, tröstete er sich nach zwei Stunden und ging allein ins Kino, wo er zum Hauptfilm noch zurecht kam. Es tat Robert nicht gut, nach diesem Erlebnis „Bel ami“ zu sehen, die Geschichte eines Mannes, der so viel Glück bei den Frauen hatte, aber er machte sich einen Genuß daraus, sich jetzt noch diesen Schmerz zuzufügen. Fräulein Tredup hatte ihn verwundet, „Bel ami“ sollte diese Wunde noch weiter aufreißen, so weit, bis er selbst nur noch ein einziger großer Schmerz war. So zugerichtet, hoffte er, bald ganz erkaltet zu sein.

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