Gedicht der Woche 22/2023
Voraussicht
Mein letzter Freund wird der Rosenstrauch sein,
Der vor meinem Fenster steht.
Wenn auch der vorletzte von mir geht:
Der letzte läßt mich nicht allein.
Lieben zum Tode hin ist zu beschwerlich.
Gramgrau, griesig und riecht nicht gut.
Zu sehen, wie schwer sich der Sterbende tut,
Um noch zu bleiben, und ist schon entbehrlich.
Ja, wenn sich noch irgendwo Hilfe fände.
Aber man weiß doch genau: Hilfe ist nicht.
Man lügt ihm lächelnd ins fremde Gesicht,
Und dabei zittern einem die Hände.
Besser, wenn auch der vorletzte geht.
Endlich ist Schweigen, und dann ist Stille.
Langsam zersetzt sich der Lebenswille.
Man sieht, daß die Rose in Blüte steht.
Eva Strittmatter
aus "Die eine Rose überwältigt alles"
Aufbau Verlag 1977
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