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Gedicht der Woche 03/2025

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Beschwörung

Wenn man so alt und so trüb ist wie ich
Und Brillen braucht und die Zähne tun weh,
Dann bleibt man am besten allein mit sich
Und treibt allein durch den treibenden Schnee
Und beschwört sich Gestalten, die einen einst kannten,
Als man wirklich war: ein freudiges Kind,
Dem von der Frostglut die Wängelein brannten 
Und Füß und Hände zerfroren sind
Beim seeligen Eifern in Schneedämmerungen,
Wenn Veilchenmond überm Schnee erschien ...
Und haben wir schöne Liedlein gesungen,
Als Rosenwolken im Abendlicht ziehn ... 
Kalt kalt wars. Eisig. Eisheilge Zeit!
Ich hab ihr Gefühl innig in mir versteckt
Und heut, da es in der Dämmrung so schneit,
Mit allen Lüsten wiedererweckt,
Und bin verwandelt, bin wieder ich.
Ich bin das Kind, das keiner mehr kennt.
Nur alle die Kindelein missen mich,
Die so wie mich die Erinnerung brennt.


Eva Strittmatter

aus "Atem"
Aufbau Verlag 1988

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